Altstadthaus
Münstergasse 32, Bern
Das sechsachsige Gebäude, das prominent an der Nordseite des Münsterplatzes steht, erscheint auf den ersten Blick als Einheit. Tatsächlich ist es jedoch aus zwei ehemals selbstständigen spätmittelalterlichen Gebäuden zusammengewachsen, was sich im Inneren anhand der Brandwand, den zwei Lichthöfen mit den beiden Hinterhäusern und den zwei Wendelsteinen unschwer erkennen lässt. Ebenfalls auf das Spätmittelalter geht die Überbauung des Münstergässchens zurück, welche sich in der östlichsten Fensterachse der heutigen Platzfassade manifestiert. Erst im Jahr 1820 wurden die Brandmauern durchbrochen und die zwei Häuser zusammengefasst, um in den Hauptgeschossen drei grosszügige Etagenwohnungen einzurichten. Die Liegenschaft hat eine ausgesprochen komplexe Bau- und Besitzergeschichte, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, die jedoch zur heterogenen Ausstattung beigetragen hat.
Die einheitliche äussere Erscheinung geht auf die Zusammenlegung im Jahr 1820 zurück. Damals ist die dreiachsige Fassade des östlichen Hauses, welche um 1720 erneuert worden sein dürfte, kopiert und auf das stadtaufwärts gelegene Haus übertragen worden (1. Damit erhielt das nun annähernd doppelt so grosse Gebäude im Klassizismus eine repräsentative Front, die stilistisch dem Frühbarock zuzuordnen ist. Die heutige frühbarocke Erscheinung mit den auf Gehrung geschnittenen Fenstereinfassungen dürfte allerdings mit ihrem klaren, rasterartigen Ausdruck dem Zeitgeschmack des frühen 19. Jahrhunderts durchaus entsprochen haben.
Nutzung als Verwaltungsbau
Nachdem das Gebäude lange dem Wohnen, später auch gewerblichen Zwecken gedient hatte, erwarb es der Kanton Bern. In den 1980er-Jahren wurde es zum Sitz der Kantonalen Denkmalpflege. In diese Zeit fällt auch der Ausbau des Dachraums, wo Architekt Kurt Gossenreiter (1941–2007) zwei durch die historische Brand- wand geteilte Maisonettewohnungen eingerichtet hat. Die Nutzung als Verwaltungsbau – und natürlich das professionelle Auge der kantonalen Denkmalpflege – sicherten die reiche Bausubstanz im Gebäudeinneren. Neuerungen und Anpassungen sind stets additiv und mit kleinstmöglichen Eingriffen vorgenommen, nicht benötigte Ausstattungsteile nummeriert und ins Depot der Denkmalpflege verbracht worden. Die Zeit als Verwaltungsbau endete mit dem Beschluss des Kantons, Büroflächen zu konzentrieren und kantonseigene Objekte in der Altstadt nach Möglichkeit zu veräussern.
Ein neuer Eigentümer
Obwohl der Kanton explizit einen Verkauf der Liegenschaft «an den Meistbietenden» verlangte, erwies sich die neue Eigentümerschaft als ausgesprochen interessiert und offen für die Erörterung von Fachfragen. Auch die Wahl des Architekturbüros, die in der Regel ausschlaggebend ist für die Qualität des Resultats, wurde ganz im Sinne des Objekts getroffen (2. Mit einer affinen Bauherrschaft und einem Architektenteam, das über langjährige profunde Kenntnisse im Umgang mit Altstadtliegenschaften verfügt, standen die Projektierungsarbeiten aus denkmalpflegerischer Sicht von Anfang an unter einem guten Stern.
Tatsächlich ging es in einem ersten Schritt darum, die grundsätzlichen konzeptuellen Weichenstellungen zu definieren. Da das Haus aufgrund seiner Baugeschichte immer noch über zwei funktionierende Treppenhäuser und zwei Küchentrakte verfügte, lag eine Teilung der Liegenschaft nahe. Die reine Marktlogik befördert solche Überlegungen, da die Mieten pro Quadratmeter bei kleineren Wohneinheiten in aller Regel höher angesetzt werden können als bei Grosswohnungen. Gestützt auf die ersten Konzeptstudien und im Sinne der grösstmöglichen Rücksichtnahme auf den Wert und die Baugeschichte des Gebäudes entschied sich die Bauherrschaft dennoch, die grossen Etagenwohnungen in allen drei Hauptgeschossen zu erhalten und auf eine erneute Aufteilung des Hauses zu verzichten. Dieser Entscheid ermöglichte es, das denkmalpflegerische Konzept, das auf die letzte relevante Zeitschicht abstellen sollte, in aller Konsequenz umzusetzen. Mit der letzten relevanten Zeitschicht ist in unserem Falle die Umbauphase von 1820 identifiziert worden, in welcher die vormals getrennten Liegenschaften vereinigt und die Wohngeschosse dem damaligen Zeitgeschmack entsprechend umgestaltet worden sind. Auch wenn dabei viele Elemente aus vormaligen Ausstattungsphasen beibehalten oder wiederverwendet worden sind, so hat der um 1820 dominierende Klassizismus doch überall im Haus seine Spuren in Form von Überformungen, Ergänzungen oder Neuausstattungen hinterlassen. Dass auch die Hauptfassade am Münsterplatz in dieser Phase ihr heutiges Gesicht erhalten hat, bezeugt, dass die Münstergasse 32 damals ihre gültige Form erhielt.
Grundlagenarbeit
Doch vor einer detaillierten Umbauplanung müssen erst einmal die entsprechenden Grundlagen erarbeitet wer- den. Dazu gehörte in einem ersten Schritt die Schaffung exakter Gebäudeaufnahmen. Hier entstand ein wahres Meisterwerk: Es wurde nicht nur ein vollständiger Plansatz erstellt, vielmehr sind auch alle Ausstattungen bis hin zur exakten Profilierung von Vertäfelungen und Türen aufgenommen und ins Planwerk übertragen worden. Weiter musste eine restauratorische Untersuchung der wertvollen Räume und ihrer Ausstattung vorgenommen werden (3. Diese beinhaltete ein Raumbuch, das anhand stratigrafischer Untersuchungen Aufschluss über die verschiedenen Raumfassungen gab. Dass diese Arbeiten umfassend und mit grösster Sorgfalt ausgeführt werden konnten, ist wiederum der Bauherrschaft zu verdanken, welche dafür die nötige Zeit zur Verfügung stellte und damit auf eine möglichst schnelle Vermietung des Objektes verzichtete.
Umbauplanung
Mit diesen Grundlagen und gestützt auf den Entscheid, die Grosswohnungen zu erhalten, konnten sich die Architekten sorgfältig an die Umbauplanung machen. Dabei wurde auch der Einbau eines Lifts diskutiert, für den im Abortbereich des Ostteils der passende Standort gefunden werden konnte. Schwieriger war die Einpassung der neuen Küchen, denen in den neuen Grosswohnungen mit sieben Zimmern heute ein ganz anderer Stellenwert beigemessen werden muss, als dies zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Fall war. Eine Platzierung in den beengten Hinterhäusern kam daher nicht in Frage. Schliesslich ist die ganze Kücheninfrastruktur im Vestibül des Ostteils als kompakte, von Wänden und Decken losgelöste Insellösung konzipiert und eingepasst worden. Ein vertikaler Erschliessungsstrang sorgt dafür, dass Eingriffe in die historische Raumhülle minimiert und gleichzeitig ein Gästebad angeschlossen werden konnten. Damit blieb im westlichen Hinterhaus Platz für die Einrichtung eines grosszügigen Bades. Im östlichen Hinterhaus konnte dagegen ein separates Zimmer eingerichtet werden, das über das neue Haupttreppenhaus und den Lift unabhängig erschlossen ist.
Effingers Salon
Den Höhepunkt der Innenausstattung stellt zweifellos der grosse dreiachsige Salon im zweiten Stock des Westteils dar: Stuckdecke, Bernerparkett, Wandbespannung, klassizistischer Kachelofen und Cheminée aus schwarzem Marmor inklusive Spiegel sowie die zwei Louis-XVI-Konsoltischchen mit dazugehörenden Trumeauspiegeln (im ausgehenden 18. Jahrhundert in der Werkstatt Funk entstanden, aber erst 1820 für die hiesige Platzierung erworben), gehen auf den grossen Umbau von 1820 zurück. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Wandbespannung von Anfang an eine Papiertapete trug, die jedoch viele Male erneuert wurde. Eine Sondage von 2001 hat nachgewiesen, dass das freigelegte Feld mit dem Rest der alten Goldstäbchen- Einfassung eine Neutapezierung von 1848 oder 1849 darstellt. Das war die Zeit, als die Etage vom damaligen Stadtpräsidenten Friedrich Ludwig Effinger (1795–1867) bewohnt wurde. Die Vermutung liegt nahe, dass der neugewählte Stadtpräsident diesen Raum passend zu seinem Amt für Repräsentationszwecke neu ausstatten liess. Die stratigrafischen Untersuchungen zeigen, dass der Raum danach noch ganze sechs Mal neu tapeziert und um 1900 unterteilt worden ist. 1974 wurde die Unterteilung rückgängig gemacht und der Raum einheitlich gestrichen.
Der Entscheid, die Sanierungsmassnahmen grundsätzlich am Zustand von 1820 zu orientieren, machte eine sorgfältige Abwägung und ein individuelles Eingehen auf jede einzelne Situation keineswegs überflüssig. So wurde aufgrund der Befunde wie auch aufgrund der sozialgeschichtlichen Bedeutung entschieden, den grossen Salon im Sinne Effingers wiederherzustellen. Dabei waren insbesondere Fragen zur Restaurierungsfähigkeit beziehungsweise zur Rekonstruierbarkeit der Tapeten zu diskutieren. Zwar konnten zwei Tapetenfelder von späteren Schichten befreit und fachgerecht restauriert werden, für alle Wandfelder erwies sich der Aufwand jedoch als unverhältnismässig. Daher kam nur der Nachdruck der historischen Tapeten in Frage (4. Schliesslich konnten im Siebdruckverfahren in insgesamt sechs verschiedenen Layern die Panneaux und die Rahmungen aufwendig nachgedruckt und vor Ort wieder angebracht werden. Heute ist der Salon Effingers zweifellos wieder der repräsentativste Raum im Hause.
Kabinett
In der Südostecke der Grosswohnungen, immer über dem Quergässchen angeordnet, befindet sich jeweils ein einachsiges Kabinett. Im ersten Obergeschoss ist dieses mit Wand- und Deckentäfer ausgestattet. Restauratorische Sondagen zeigten, dass die Felder mit einer eleganten Régence-Malerei auf rehbraun maseriertem Grund versehen waren, die sich jedoch unter mehreren Farbschichten verbarg, darunter auch die Fassung von 1820. Rätsel gab die flächige und eigentlich klassizistisch anmutende Rahmenprofilierung der Täferfelder auf, auf welcher die der Barockzeit zuzuordnende bräunliche Grundfassung fehlte. Wie sich zeigte, ist der Raum tatsächlich um 1820 überarbeitet worden. Dabei ging man allerdings äusserst pragmatisch vor: Anstatt das ganze Täfer oder auch nur die Profilierung zu ersetzen, wurde letztere einfach abgehobelt, bis sie eine für die damalige Zeit modernere Erscheinung annahm, und anschliessend einheitlich grünlich-grau gestrichen. Nun stellte sich die Frage, ob dieses Kabinett im Sinne der «letzten relevanten Zeitschicht» seine klassizistische Anmutung behalten oder aufgrund der wertvolleren Régence-Malerei wieder im Sinne des Barock hergerichtet werden sollte – eine Detailfrage zwar, aber nicht ohne denkmaltheoretischen Zündstoff. Schliesslich erleichterten die erheblichen Kosten, welche die Freilegung der Barockmalerei verursacht hätten, die Entscheidung. Freigelegt wurden nur die beiden Türflügel des Einbauschranks, die übrigen Flächen wurden in der Farbe von 1820 gestrichen, und die Rahmenprofilierung blieb flach. So fügt sich der Raum visuell und denkmaltheoretisch ins übergeordnete Sanierungskonzept ein und macht mit den freigelegten Schranktüren dennoch auf seine frühere Ausstattungsphase aufmerksam.
Historische Fenster
Wohl gleichzeitig mit der Systematisierung der Fassade sind um 1820 neue Fenster eingesetzt worden. Mit ihren klassizistischen Beschlägen und ihrer Profilierung sind diese Eichenfenster von hoher Qualität und baukulturellem Wert. Sie prägen mit den ebenfalls erhaltenen Vorfenstern das Gebäude sowohl im Innenraum wie in der Aussenansicht entscheidend. Historische Fenster beinhalten keinerlei graue Energie und können Jahrhunderte überdauern. Obwohl sie damit eigentlich ein Bei- spiel nachhaltigen Bauens darstellen, entsprechen sie heutigen Energienormen in der Regel nicht. In der denkmalpflegerischen Praxis muss daher immer nach der passgenauen Speziallösung gesucht werden, um diese Elemente erhalten zu können. Dabei hat die Denkmalpflege langjährige Erfahrungen sammeln können. Im vor- liegenden Fall ist die Verglasung der Hauptfenster durch eine neue, dünne Isolierverglasung mit einer gezogenen Glasebene ersetzt worden. Die Vorfenster wurden erhalten und abgedichtet, sodass sie ebenfalls einen Beitrag zur Energieeffizienz und zum Schallschutz gegen den vielgenutzten Münsterplatz leisten. Dank dieser Mass- nahmen konnten die Fenster nicht nur in ihrer Substanz, sondern auch in ihrem charakteristischen Erscheinungs- bild erhalten werden.
Zeugnis der jüngsten Baugeschichte
Zu den jüngsten Baumassnahmen im Haus Münstergasse 32 gehören die beiden Dachwohnungen, die der Architekt Kurt Gossenreiter in den Jahren 1982–1983 in das Dachvolumen eingebaut hat. Mit seiner charakteristischen Architektursprache, die von originellen Schlosserarbeiten geprägt wird, können diese beiden Wohnungen bereits denkmalpflegerische Zeitzeugenschaft beanspruchen. Schnell war klar, dass diese Wohnungen möglichst erhalten und ebenfalls nach denkmalpflegerischen Kriterien instand gestellt werden sollen. Bei der Wohnung, welche die westliche Dachhälfte einnimmt, mussten nur die Küchengeräte ersetzt werden. Bei der östlichen wurde entschieden, auch das als Box ausgebildete Bad heutigen Ansprüchen entsprechend umzubauen und etwas anders im Dachraum anzuordnen, sodass auch die Treppe auf die Galerie ergonomisch besser gestaltet und der Sprache Gossenreiters angepasst werden konnte.
Würdigung
Die umfassende Sanierung eines so grossen und bedeutenden Hauses in der Berner Altstadt gehört nicht zum denkmalpflegerischen Tagesgeschäft, es stellt vielmehr die Ausnahme dar. Immer sind neue Herausforderungen zu meistern, denn kein Haus gleicht dem andern, jedes hat eine andere Bau- und Umbaugeschichte, und der Zustand unterscheidet sich jeweils grundlegend. Und natürlich stellen sich auch die Rahmenbedingungen, unter denen Sanierung und Umbau stattfinden können, immer wieder anders dar. Eigentümerschaften und Planende sind selten dieselben, ebenso unterscheiden sich die Nutzungsansprüche. Dennoch gibt es ein paar fundamentale Gemeinsamkeiten: Das Interesse der Bauherrschaft an ihrem Gebäude, ihre Affinität für die architekturhistorische Bedeutung sowie die Wahl der Planenden – all deren Erfahrung und Engagement entscheiden zusammen über die Qualität des gebauten Resultats. Gerade diese beiden Parameter kann die Denkmalpflege jedoch nur selten beeinflussen.
Als umso grösserer Glücksfall darf das Zusammenspiel von Bauherrschaft und Planenden im Falle des Umbaus der Münstergasse 32 bezeichnet werden. Schon anlässlich der ersten Kontakte mit der Denkmalpflege hat die Bauherrschaft klargemacht, dass der fach- und sachgerechte Umgang mit der kostbaren Altstadtliegenschaft im Zentrum ihres Interesses steht. Diese Haltung schuf die planerischen und restauratorischen Voraussetzungen für einen exemplarischen Umbau. Mit der Wahl des Architekturbüros konnte eines der erfahrensten Teams für derartige herausfordernde Bauaufgaben gewonnen werden. Zusammen mit den Fachpersonen aus Restaurierung und Handwerk haben Bauherrschaft und Architekten das Haus am Münsterplatz wieder seiner ursprünglichen Nutzung als Wohnhaus zugeführt – und eine in jeder Hinsicht vorbildliche Arbeit für die Berner Altstadt geleistet.
Denkmalpflegerische Begleitung und Text: Jean-Daniel Gross
Anmerkungen:
- Gemäss Jürg Schweizer, ehem. Denkmalpfleger des Kantons Bern, stammte das Projekt von Bauinspektor Ludwig Sparen, der damals als Adjunkt von Kantonsbaumeister Johan Daniel Osterrieth amtete, vgl. dazu Schweizer, Jürg: Typoskript zur Geschichte und Baugeschichte Münstergasse 32, 2017.
- Architektur: CampanileMichetti Architekten, Bern.
- Restauratorische Untersuchung: Hans-Jörg Gerber, dipl. Restaurator HFG, Nidau.
- Atelier Fink, Handdruck Tapeten, Martin Fink GmbH
Bauherrschaft: |
Privat |
Realisierung | 2018 – 2020 |
Auszeichnung: Dr. Jost Hartmann-Preis 2022